Zelebrieren und Verhandeln. Zur Praxis ständischer Institutionen im frühneuzeitlichen Europa

Zelebrieren und Verhandeln. Zur Praxis ständischer Institutionen im frühneuzeitlichen Europa

Organisatoren
SFB 496 „Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution“, Teilprojekt C1 „Zur symbolischen Konstituierung von Stand und Rang in der Frühen Neuzeit“ (Universität Münster) in Zusammenarbeit mit dem „Netherlands Institute for Advanced Study in the Humanities and Social Sciences“ (NIAS)
Ort
Wassenaar
Land
Netherlands
Vom - Bis
21.03.2007 - 23.03.2007
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Von
Andreas Kalipke, Leibniz-Projekt „Vormoderne Verfahren“, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Die Tagung „Zelebrieren und Verhandeln. Zur Praxis ständischer Institutionen im frühneuzeitlichen Europa“ vom 21.-23. März 2007 in Wassenaar (NL) wurde gemeinsam vom Teilprojekt C1 „Zur symbolischen Konstituierung von Stand und Rang in der Frühen Neuzeit“ des Münsteraner Sonderforschungsbereiches 496 „Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution“ mit dem „Netherlands Institute for Advanced Study in the Humanities and Social Sciences“ (NIAS) veranstaltet. Grundlegend war die kulturwissenschaftliche Prämisse, dass sich Wert- und Ordnungsvorstellungen historischer Akteure nicht allein in einem - vermeintlich - rein instrumentellen Handeln manifestieren, sondern stets auch symbolisch kommuniziert werden. Die Tagung diente der Fortentwicklung und Diskussion der methodischen Ansätze und der Verbreiterung der empirischen Grundlage der Ständeforschung im Sinne des angeführten Axioms. Das NIAS unter der Leitung von WIM BLOCKMANS bot den Teilnehmern der Tagung dazu drei Tage lang einen optimalen und angenehmen Rahmen.

Nachdem WIM BLOCKMANS als Direktor des NIAS die Tagungsteilnehmer willkommen geheißen hatte, betonte BARBARA STOLLBERG-RILINGER (Münster) in ihren begrüßenden Worten, dass vormoderne Verfahren nur unter Betrachtung der beiden, konstitutiven Bestandteile des Verfahrens, des „Zelebrierens“ einerseits und des „Verhandelns“ andererseits, deren Zusammenhang stets im Blick zu behalten sei, überhaupt erst verständlich würden.

MICHAEL SIKORA (Münster) führte sodann in das Tagungsthema ein, indem er die Grundannahme erläuterte, dass politische Verfahren nicht nur in ihrer technisch-instrumentellen, auf Entscheidung zielenden Dimension betrachtet werden dürfen, sondern auch in ihrer symbolisch-expressiven Dimension ernst zu nehmen seien. Dabei wandte sich Sikora gegen ein vielfach nur komplementär verstandenes Verhältnis beider Aspekte, in dem das Symbolische lediglich als Zutat, als Medium einer vermeintlich manipulativen Inszenierung einer „eigentlichen“ Politik verstanden wird. Insofern sei die Perspektive der traditionellen Politik- und Verfassungsgeschichte, mithin gerade auch der Ständeforschung, zu ergänzen. Sikora stellte die Verwobenheit von technisch-instrumenteller und symbolisch-expressiver Verfahrensdimension, u.a. unter Bezug auf Niklas Luhmanns Verfahrenstheorie, dar und erläuterte, dass mit Blick auf vormoderne Verhältnisse deren Spezifika in Rechnung zu stellen seien, so etwa eine verstärkte externe, religiöse Legitimierung von Entscheidungen, das Bedürfnis, Konsens herzustellen oder zumindest zu fingieren, was auch mit der Problematik der Verbindlichkeit für Abwesende und Nichtzustimmende einherging, sowie die Tatsache, dass soziale Relationen der Akteure im Verfahren stets mitverhandelt wurden. Es sei auch zu beachten, dass, in Ermangelung geschriebener Verfassungen, der symbolischen Dimension die Funktion zufiel, die bestehende Ordnung in actu immer wieder neu zu bestätigen. Ein höheres Potential symbolischer Sinnträchtigkeit sei daher für die Vormoderne in Rechnung zu stellen. Die Weiterentwicklung der diese symbolische Ebene einbeziehenden Ansätze vor dem Hintergrund der so vielgestaltigen ständischen Praxis bezeichnete Sikora als ein Ziel der Tagung.

Die ersten beiden Vorträge der Tagung widmeten sich dem Paradebeispiel ständischer Partizipation. WIM BLOCKMANS (NIAS/ Leiden) beleuchtete in seinem Vortrag Genese und Funktion der niederländischen Provinz- und Generalstaaten im ausgehenden Mittelalter und zu Beginn der Frühen Neuzeit und verwies auf das legitimatorische Potential der Stände, die v.a. in dynastischen Krisen einberufen wurden. Blockmans stellte dar, wie die burgundischen Herzöge, und in dieser Eigenschaft etwa auch die Habsburger, zur Sicherung ihrer Nachfolge in den Niederlanden auf die Einwilligung der Stände angewiesen waren, wofür sie z.T. weitreichende Privilegien zugestanden. Im Gegenzuge waren die Stände mitunter bereit, auch Entscheidungen gegen das Herkommen zu treffen. So wurde mit den konkreten Sukzessionsfragen auch immer das Verhältnis von ständischer Partizipation und fürstlicher Gewalt neu verhandelt.

IDA NIJENHUIS (Den Haag) setzte das Thema der niederländischen Generalstaaten mit ihrem Vortrag für die Zeit nach 1621 fort und stellte die Formensprache dar, mit der die Generalstaaten bestrebt waren, ihre Stellung symbolisch zum Ausdruck zu bringen. Nach außen dokumentierten formelle Bündnisse mit Frankreich und England die De-facto-Souveränität, der Rang im Gesandtschaftszeremoniell direkt hinter, aber eben auf derselben Ebene wie Venedig tat ein Gleiches. Nach innen stellten die Generalstaaten die höchste Autorität in den Niederlanden dar, was etwa darin zum Ausdruck kam, dass sich auswärtige Mächte an sie und nicht an den Statthalter wandten. Das Verfahren selbst changierte, je nach Materie, zwischen Mehrheits- und Einstimmigkeitsprinzip. Nijenhuis machte deutlich, dass sich die Generalstaaten in ihrer Symbolik der monarchischen Formensprache bedienten, um ihre Souveränität anzuzeigen.

Die Spezifika der Schweiz erläuterte ANDREAS WÜRGLER (Bern), der die eidgenössischen Tagsatzungen behandelte, die keine eigentlichen Ständeversammlungen, sondern die repräsentative Institution dreizehn souveräner Orte darstellten. Gegenstände der Tagsatzungen war vorrangig die Friedenssicherung und die Regierung der gemeinsamen Herrschaften. Im Verfahren galt zwar, bis auf konfessionelle Fragen, bei denen seit 1632 der gütliche Vergleich der Konfessionsparteien stattfinden sollte, das Mehrheitsprinzip, doch wurden in einem pragmatischen Umgang mit ihm stets Konsenschancen gesucht und harte Mehrheitsentscheide vermieden. Bei der Herstellung des Konsenses war der schleppende Geschäftsgang hilfreich, der eine allmähliche Annäherung der Kantone und gesichtswahrende Positionswechsel ermöglichte. Die Praxis des Nicht-Stimmens und die daraus folgende Unverbindlichkeit der Beschlüsse für die stimmenthaltenden Kantone rangierten dabei in einer bis zum Ende der Frühen Neuzeit nie geklärten Grauzone. Würglers einleuchtender Schluss lautete, dass die Funktion der Tagsatzungen weniger in der Entscheidungskompetenz, der Herstellung bindender Entscheidungen, bestanden habe, sondern eher in der Kommunikationskompetenz, interne Konflikte zu regulieren und externe Verhältnisse zu regeln. Den Tagsatzungen wuchs damit die Funktion zu, die Eidgenossenschaft selbst zu symbolisieren. Insofern kam Würgler zu einer anderen Wertung als die ältere Forschung, die die Ineffizienz und den mangelnden politischen Output der Tagsatzungen kritisch fokussierte.

TIM NEU (Münster) leitete mit seinem Vortrag ins Reich über. Zunächst legte Neu dar, wie individuelle Ordnungsvorstellungen der Akteure durch Symbolisierung überindividuell verfügbar gemacht und mit denen der anderen Akteure zur Passung gebracht werden müssen, um als soziale Tatsache konstituiert zu werden. Der Referent betonte damit den Konstruktionscharakter sozialer Ordnungen, der, je erfolgreicher die Passung individueller mentaler und überindividueller sozialer Strukturen gelinge, desto mehr als „natürlich“ verschleiert werde. Anhand der Sitzordnung der ersten Kurie des hessen-kasselischen Landtages zeigte Neu dann, wie die Hierarchie innerhalb der Prälaten dieser Kurie in ein räumliches Rang- und Präzedenzarrangement überführt wurde. Darüber hinaus betonte der Referent, dass durch die Koppelung von Beratung und Abstimmung im Umfrageverfahren die Reihenfolge der Voten ein besonderes Gewicht erhielt, da den Vorschlägen Höherrangiger in der altständischen Gesellschaft stets auch höhere Autorität zugemessen wurde. In jeder Abstimmung wurde damit neu die Ordnung hergestellt bzw. stabilisiert. Insofern, so Neus überzeugendes Fazit, stellten nicht nur das Zelebrieren sondern auch das Verhandeln die Ordnung performativ her.

ARNO STROHMEYER (Graz) betonte die variantenreiche Rolle, die der selektiven Erinnerung bei der Konstruktion einer Herrschaftsordnung zukam. Im Rahmen der Huldigungen für Rudolf II., Mathias und Ferdinand II. zeigte Strohmeyer, dass die niederösterreichischen, größtenteils protestantischen Stände stets bestrebt waren, eine schriftliche Konfirmation ihrer Religionsfreiheiten zu erlangen, was die angehenden Landesherren stets zugunsten mündlicher Zusicherungen zu vermeiden trachteten. Die Verbindlichkeit derartiger Zusicherungen auch für die Nachfolger waren jedoch bei erneuten Verhandlungen im Sukzessionsfalle Gegenstand der Debatte. In Ungarn hatte sich kein unbestrittenes Herkommen über die Frage, ob es sich dort um ein Wahl- oder Erbkönigtum handele, durchgesetzt. Aus diesem Grunde griffen sowohl Stände als auch Landesherr sehr weit in die Geschichte zurück, um Argumente für ihre Position zu finden. Bei den Huldigungen wurde damit stets, so das Résumé Strohmeyers, die für die Vergangenheit konstruierte jeweilige Herrschaftsordnung verfochten, um diese projektivisch in die Zukunft hinein zu perpetuieren. Die interessegeleitete Gestaltung von Gegenwart und Zukunft trat so stets im Gewand der Wiederherstellung des Alten auf.

REEMDA TIEBEN (Münster) betrachtete die Konflikte zwischen den Ständen Ostfrieslands und dem Grafen- bzw. Fürstenhaus der Cirksena um die Beschickung des Landtages durch unterbäuerliche Schichten und die Kontrolle der Vollmachten der ständischen Deputierten. Tieben zeigte, wie der Ausschluss unterbäuerlicher Schichten vom Landtag in der Zeit konkurrierender Ständeversammlungen von Landesherrschaft und einem Teil der Stände einerseits und den übrigen Ständen unter der Führung der Stadt Emden andererseits in den Jahren 1618-1620 dazu verwendet wurde, den Vorwurf, man lasse „schlechte Personen“ zum Landtag zu, ins Leere laufen zu lassen. Die Zusammensetzung des emdisch dominierten Landtags wurde nämlich von fürstlicher Seite attackiert, um dessen Korporationscharakter und damit die durch Identitätsrepräsentation zustande gekommenen Beschlüsse als nichtig zu diffamieren. Während in der Folgezeit über den Ausschluss der unterbäuerlichen Schichten Einigkeit zwischen dem opponierenden Teil der Stände und dem Grafen hergestellte werden konnte, entwickelte sich bis zum Anfall Ostfrieslands an Preußen im Jahre 1744 die Kontrolle der Vollmachten der Landtagsdeputierten, die Stände und Landesherrschaft jeweils für sich reklamierten, zum Streitfall. Tieben konnte nun zeigen, dass die für die Deputierten vorgeschriebenen Qualifikationen sehr oft unterlaufen wurden, beide Seiten auf eine Einhaltung der Bestimmungen keinen Wert legten, und die Vollmachtenvisitation vielmehr die Funktion besaß, die Bauern auf das eigene politische Programm zu verpflichten und symbolisch anzuzeigen, wer die tatsächliche Herrschaft innehatte.

Die aus den unterschiedlichen Handlungslogiken resultierende Vielgestaltigkeit von bündischen sowie Land- und Reichstagen arbeitete GABRIELE HAUG-MORITZ (Graz) mit institutionentheoretischem Instrumentarium anhand der schmalkaldischen Versammlungstage der 1530er-Jahre, der ernestinischen Land- und Ausschußtage der beginnenden 1530er-Jahre sowie des Reichstags von 1532 heraus. Haug-Moritz untersuchte die symbolischen Ausdrucksformen, in denen sich die jeweiligen Leitideen spiegelten, sowie den Formalisierungsgrad der drei Institutionen. Aspekte des Vergleichs waren etwa die Abgrenzung des Teilnehmerkreises, die (Un-)Gleichheit im Verfahren, der Grad der Verfahrensautonomie, der bündische bzw. korporative Charakter, die Darstellung für Abwesende, die Verbindlichkeit der Beschlüsse u.a. Haug-Moritz beleuchtete darüber hinaus das Handlungs- und Kommunikationsrepertoire innerhalb der drei Ordnungsarrangements. So „baten“ der sächsische Kurfürst und der hessische Landgraf zum Bundestag, „begehrte“ derselbe sächsische Kurfürst den Zusammentritt seiner Stände, „befahl“ der Kaiser den Reichstag. Darin spiegelten sich, so Haug-Moritz, die divergierenden legitimatorischen Fundierungen der Zusammenschlüsse – Freiwilligkeit, Gegenseitigkeit, Gehorsam. Die systematische Analyse einzelner Sprechakte bezeichnete die Referentin in dieser Hinsicht als weiterführendes Anliegen einer vergleichenden Erforschung vormoderner Institutionen. Der Vortrag gab wertvolle Anstöße für eine institutionentheoretische Analyse vormoderner Verfahren und weitete den Blick über das Verfahren an den Tagen selbst hinaus auf dessen jeweilige Voraussetzungen.

ELIZABETH HARDING (Münster) sprach über die Verfahrensschwierigkeiten der ritterschaftlichen Landtagskurien der Grafschaft Ravensberg und des Fürstbistums Münster und legte dar, dass diese nicht nur keine schriftlichen Verfahrensregeln besaßen, sondern sich darüber hinaus auch in der Praxis keine eindeutigen Normen zur Entscheidungsfindung etablieren konnten. Gelang es, ein einstimmiges Votum herbeizuführen oder zumindest einen von einer größeren Mehrheit getragenen Entscheid, blieb dieser Mangel folgenlos. Im Konfliktfall jedoch wurde er virulent, wie Harding anhand einer Personalwahl aus dem Jahr 1709 in Ravensberg sowie einer Abstimmung in Münster im Jahr 1773 darstellte. Beide Beispiele zeigten, dass die jeweilige Verfahrensschwäche der Ritterschaft zum Verlust der Verfahrensautonomie führte, indem letztlich extern entschieden wurde, im ersten Fall durch den König, im zweiten Fall durch einen interkurialen Ausschuss. Damit setzte die Referentin ein Fragezeichen hinter die Forschungsmeinung, nach der der Mehrheitsentscheid für Korporationen landständischer Ritterschaften als typisch betrachtet wird. Im Rahmen des Landtags wurde durch die kuriale Beratung v.a. der Partizipationsanspruch des niederen Adels symbolisch kommuniziert, wohingegen Rangfragen innerhalb der Ritterschaft kaum eine Rolle gespielt zu haben scheinen. Trotz dieser Ranghomogenität und einer grundsätzlichen Akzeptanz des Mehrheitsentscheides wurde die Verfahrensautonomie immer wieder durchbrochen.

HARRIET RUDOLPH (Trier) stellte anhand der Strategien, die die innerösterreichischen Stände befolgten, um sich auf dem Reichstag von 1594 einen hohen Anteil der Türkenhilfe zu sichern, die Möglichkeiten und Grenzen der Interessensdurchsetzung dar, die das Zeremoniell des Reichstages dieser nicht reichsständischen Gesandtschaft bot. Den ständischen Abgesandten blieb der Zugang zu den politischen Foren verwehrt. Aus diesem Grunde griffen sie verstärkt auf „weiche Faktoren“ zurück, indem sie sich bspw. Einladungen zu Banketten verschafften oder gemeinsam mit den protestantischen Reichsständen Gottesdienste besuchten. Rudolph betonte die Rolle, die den weniger öffentlichen und tendenziell weniger zeremonialisierten sowie den informellen Räumen zukam. Rudolphs Urteil, gerade die bürgerlichen Juristen hätten sich verfahrensrational gegeben und deshalb Präzedenz- und Sessionsstreitigkeiten als unnütz eingestuft, stieß in der anschließenden Diskussion auf Skepsis im Plenum.

ALBRECHT P. LUTTENBERGER (Regensburg) legte dar, dass die Session des Reichstages den Rang der Reichsstände abbildete, so dass jeder neue Reichstag zur Reproduktion der Organisationsstruktur des Reiches beitrug. An einigen Beispielen vom Reichstag des Jahres 1541 demonstrierte Luttenberger jedoch, dass die Grundstruktur des Reiches zu dieser Zeit noch keineswegs eindeutig, sondern störanfällig war. So stieß etwa die Prachtentfaltung des päpstlichen Legaten Contarini auf massive Kritik seitens der Protestanten, so dass sich Contarinis Bemühungen, seinen Rang symbolisch zu kommunizieren, ins Gegenteil verkehrten. Im Sessionsstreit zwischen Herzog Heinrich II. von Braunschweig-Wolfenbüttel und Philipp von Hessen sowie im Konflikt Kursachsens mit den Bistümern Meißen und Merseburg um deren Reichsstandschaft wurde jeweils ein pragmatischer Ausweg gefunden. Luttenberger resümierte daher, dass die Rangkonflikte in aller Regel nicht zu einer dauernden Blockade des Verfahrens führten. Er betonte auch die kontext- und interessensabhängige Umdeutung zeremonieller Symbolik, die verfügbar und einsetzbar gemacht wurde.

Mit dem Vortrag von KOLJA LICHY (Berlin) wurde der Blick vom Reich nach Polen gelenkt, wo das Sejmzeremoniell zur Zeit Sigismunds III. Wasa die Rang- und Einflussunterschiede sinnfällig machte. Die Landboten, der dritte Stand, der gemeinsam mit dem aus den Magnaten bestehenden Senat und dem König den Sejm bildete, waren etwa im Warschauer Königsschloss, dem Tagungsort, schon von ihrer Lozierung her den Senatoren nachgeordnet. Doch auch im Verfahrensgang selber waren sie benachteiligt, da sie nur mit einer Stimme sprechen durften. Somit waren sie in technisch-instrumenteller Hinsicht, gerade dadurch aber auch in symbolisch-expressiver Weise, zurückgesetzt. Die absolutistischen Ambitionen Sigismunds, denen der niedere Adel das Ideal des regimen mixtum entgegensetzte, führten schließlich dazu, dass ein einflussreicher Teil der Landboten 1606 aus dem Sejm auszog und sich zum sog. Rokosz versammelte. Durch den Zuzug der beiden anderen Stände sollte er jederzeit zum Sejm erweiterbar sein. Im Rokosz wurde insbesondere die freie Rede, die die Debatte dort strukturierte und Teil des Aushandlungsprozesses war, von den oppositionellen Landboten als konstitutiver Bestandteil von Adeligkeit und erachtet. Der Vollzug der freien Rede stellte symbolisch, aber auch performativ die polnische Freiheit wieder her.

An den Vortrag von Lichy schloss jener von HANS-JÜRGEN BÖMELBURG (Lüneburg) thematisch an, der die in der polnischen nationalen Deutung des 19. Jahrhunderts als „Sintflut“ bezeichnete Krisenepoche zwischen 1648 und 1668 betrachtete und auch hier die hohe Bedeutung der freien Rede im Sejm hervorhob. Alle Projekte, die darauf abzielten, das Sejmverfahren durch Einführung von Mehrheitsbeschlüssen, Festlegung einer Tagesordnung und verpflichtende gemeinsame Beratungen aller Sejmstände zu fixieren und zu straffen, scheiterten bereits im Vorfeld, weil die libera vox durch keinerlei Einschränkung behindert werden sollte. Da die Landboten befürchteten, dass man anderenfalls auf eine schiefe Ebene gerate, die unumkehrbar zur Errichtung eines königlichen absolutum dominium führen würde, wurde an der Notwendigkeit des unumschränkten liberum veto festgehalten. Ein Veto wurde allerdings durch eine Reihe von Regelungen eingehegt und galt als besonders rücksichtsloser Akt der Realisierung der adligen Freiheit. Bömelburg schilderte auch die Rolle des kollektiven, ostentativen Schweigens ganzer Landbotengruppen beim Aufruf zum Veto, wodurch die Last des Vetos verteilt wurde. Informelle Mittel – Zureden, Versprechungen, Erpressung usw. – sollten zur Überwindung der Blockade beitragen. Bömelburg stellte heraus, dass die Kommunikation eines gemeinsamen ständischen Handelns scheiterte, während zugleich Visualisierung und performativer Vollzug der adligen Freiheit gelangen. Diese wurde in einem Verfahren, welches, so betonte Bömelburg gegen die ältere Forschung, nicht nur aus instrumenteller Entscheidungsfindung, sondern aus den dargestellten symbolisch-expressiven Elementen bestand, zum Wesenskern des auf Einstimmigkeit zielenden Verfahrens.

Unterschiede und Gemeinsamkeiten im Eröffnungszeremoniell des sächsischen Landtages und des englischen Parlaments zu Beginn des 18. Jahrhunderts beleuchtete JOSEF MATZERATH (Dresden). Während sich die kursächsischen Stände zur Abhaltung des Landtages stets in ein kurfürstliches Schloss zu begeben hatten, musste sich umgekehrt der englische Monarch bzw. die Monarchin in den Palast von Westminster begeben. Dieses Verhältnis von Fürst und Parlament bzw. Landtag fand auch in der übrigen zeremoniellen Ausgestaltung seinen Niederschlag. Eine grundlegende Gemeinsamkeit bestand darin, dass der soziale Rang der Stände bei der Lozierung im Raum Berücksichtigung fand, dieser aber mit dem politischen Einfluss keineswegs korrespondierte: Die erste Kurie des sächsischen Landtages und das englische Oberhaus kamen direkt vor dem herrscherlichen Thron zu sitzen, obschon sie an Einfluss auf die Entscheidungen hinter Ritterschaft und Städten bzw. Commons zurücktraten. Matzerath hielt fest, dass die Landtagseröffnung in Kursachsen zu Beginn des 18. Jhs. unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand, die Parlamentseröffnung in England jedoch frei zugänglich war. Der Referent verwies darauf, dass im Zeremoniell von Landtags- und Parlamentseröffnung die Darstellung der sozialen Stratifizierung vom politischen Einfluss auf den technisch-instrumentellen Verfahrensgang abgekoppelt war.

THOMAS WELLER (Münster) gab abschließend Einblick in Funktionsweise und Handlungslogiken der kastilischen Cortes, die seit 1538 bis auf Ausnahmen (Huldigung) nur noch aus jeweils zwei procuradores achtzehn kastilischer Städte bestanden. Im Zeremoniell wurden Rangstreitigkeiten der Städte untereinander einerseits derart perpetuiert, dass sie selbst schon Teil des Zeremoniells geworden waren, andererseits aber gerade dadurch auch eingehegt. Die procuradores waren in ihren Entscheidungen den entsendenden Stadträten meist eidlich verbunden, durften dies gemäß den órdenes de celebrar Cortes jedoch nicht sein und mussten über die Verhandlungen Stillschweigen bewahren. Weller zeigte klar auf, wie hier der Konflikt einer doppelten Repräsentation, als procuradores einerseits Stellvertreter der entsendenden Stadträte zu sein, andererseits in einer repraesentatio identitatis das Reich vertreten zu sollen, symbolisch hervorgehoben und auf Dauer gestellt wurde. Obschon die von den Ständen selbst gleichsam als Akt symbolischer Gesetzgebung erlassene Wahlordnung auf rasche und eindeutige Entscheidungen zielte, bemühten sich die procuradores, durch die beschriebenen und andere Maßnahmen, die Dauer der Cortes zu verlängern, erwarben sie in dieser Zeit doch reichlich soziales, symbolisches und ökonomisches Kapital. Eine lange Dauer der Cortes lag auch im Interesse der Städte, die durch die Abhaltung der Versammlung ihren Anspruch auf Partizipation dokumentierten. Weller zog aus seinen Ausführungen den Schluss, daß Kastilien sich zwar in mancher Hinsicht von anderen Territorien mit Ständeversammlungen unterschieden habe, etwa dadurch, dass in der Regel nur Vertreter der Städte zusammenkamen, aber keinesfalls ein „Land ohne Stände“ gewesen sei, wie es die ältere Forschung darstellte. Wellers überzeugende Neubewertung lautete, dass es sich in der Überlagerung politischer und anders gelagerter, den sozialen Status der Akteure zielender Funktionen bei den kastilischen Cortes um eine typisch vormoderne Institution handelte und Kastilien somit nur bedingt eine Sonderrolle zukomme.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Vorträge durchweg von reflektiertem analytischen Zugriff und hohem Problembewusstsein geprägt waren. Zudem war die geographische Streuung erfreulich breit. Es wurde deutlich, welchen Nutzen die Einbeziehung einer Ebene symbolischer Kommunikation in die Analyse ständischer Verfahren davonträgt. In der Abschlussdiskussion wurden weiterführende Fragen aufgeworfen, etwa danach, was den politischen Körper konstituiere und wie dieser repräsentiere, oder jene nach der Mehrdeutigkeit symbolischer Ausdrucksformen und deren Folge für die Beilegung bzw. Einhegung von Konflikten. Gewinnbringend waren auch die abschließenden Anregungen, über den Zusammenhang von Herstellung und Darstellung von Entscheidungen weiter nachzudenken, das Verhältnis von „Zelebrieren“ und „Verhandeln“ komplexer zu beschreiben und zu operationalisieren. Auch wurde von Teilnehmern der Fluchtpunkt der Herstellung kollektiv verbindlicher Entscheidungen als einer Definition des Politischen in Frage gestellt und stattdessen die Befriedigung des Handelns im und durch das Handeln selbst stärker fokussiert. Ebenfalls wurde die Erforschung der Rolle einzelner Kommunikationsformen wie des Schweigens oder Stehens angemahnt. Im Ganzen wurde deutlich, dass die aktuelle Ständeforschung viel versprechende neue Wege beschreitet. Die Publikation der Beiträge in einem Sammelband ist beabsichtigt.


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